Schneidenscharf kalkulieren
Je präziser eine Werkzeugstandzeit vorhersagbar ist, desto verlässlicher kann man Prozesse planen, Stillstandzeiten vermeiden und Kosten steuern. Heute gibt es vielfältige mathematische Modelle für solche Prognosen − von der Formel bis zur aufwendigen PC-Berechnung.Beim Zerspanen formt das Werkzeug den Werkstoff um, schert ihn ab und entfernt ihn in Form von Spänen. Während des Umformvorgangs entstehen sehr große Kräfte. Neben der mechanischen Belastung wird das Werkzeug gleichzeitig thermischen, chemischen und tribologischen Einflüssen ausgesetzt. Dieses Belastungskollektiv führt dazu, dass das Werkzeug verschleißt und letztendlich ausgetauscht werden muss.
Durch eine präzise Vorhersage der Standzeit kann der Anwender seine Fertigungsprozesse entsprechend des erwarteten Werkzeugverschleißes genau planen und damit sowohl die Kosten steuern als auch Stillstandzeiten durch unvorhergesehenes Werkzeugverhalten oder mangelnde Werkzeugqualität vermeiden.
Entsprechend haben seit mehr als einem Jahrhundert Wissenschaftler und Ingenieure mathematische Modelle entwickelt und getestet, um die Kräfte zu berechnen, die im Zerspanungsprozess auf ein Werkzeug einwirken, um daraus Schätzungen der zu erwartenden Standzeit abzuleiten. Bei vielen dieser Modelle liegt der Fokus auf der Leistung eines spezifischen Werkzeugs in definiertem Werkstoff und bei einer bestimmten Bearbeitung, wobei durch einfache Formeln und wiederholte Tests gültige Verschleißprognosen erzeugt werden können.
In der Industrie benötigt man jedoch allgemeinere Modelle, die über ein breites Spektrum an Werkstoffen und Werkzeugen anwendbar sind und eine Vielzahl von Faktoren bezüglich der unterschiedlichen Werkzeug-Verschleißmechanismen berücksichtigen. Die mathematische Herausforderung steigt gemäß der Anzahl der Faktoren – je mehr Faktoren, desto aufwendiger die Berechnung.
Lassen sich einfache Standzeitberechnungen durch schlichte mathematische Formeln und manuelle Berechnungen erledigen, sind moderne, computergestützte Analysen nötig, um Gleichungen anspruchsvoller Modelle im Zeitrahmen einer Produktion zu berechnen. PC-unterstützte Berechnungen sind zuverlässig, doch sollte man den Ergebnissen kritisch gegenüberstehen und sie mit Erfahrungswerten abgleichen, besonders beim Bearbeiten schwierig zerspanbarer Werkstoffe und bei sehr hohen Schnittdaten. Allgemein hat der Fortschritt dafür gesorgt, dass sich akademische Theorien und Praxis stark angenähert haben.
Taylor definierte die Wechselwirkung von Schnittparametern und Verschleiß
In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Ingenieur F. W. Taylor ein Standzeitmodell, das für die Metallzerspanung relevante Faktoren enthielt. Taylor beobachtete, dass eine erhöhte Schnitttiefe die Standzeit kaum beeinflusste. Vorschuberhöhungen hatten einen etwas größeren Einfluss, und höhere Schnittgeschwindigkeiten zeigten den größten Einfluss auf die Standzeit.
Diese Zusammenhänge veranlassten Taylor dazu, ein Modell zu entwickeln, bei dem der Fokus auf variierenden Schnittgeschwindigkeiten vc lag. Die Gleichung für sein Grundlagenmodell lautete
vc • Tm = CT
Die Größen vc, m und CT sind Konstanten. Dieses Modell konzentriert sich somit auf die Auswirkungen der Schnittgeschwindigkeit und gilt dann, wenn die Schnitttiefe und der Vorschub nicht geändert werden. Wenn die Schnitttiefe und der Vorschub einmal festgelegt sind, wird die Geschwindigkeit angepasst, um unterschiedliche Standzeiten zu realisieren. Hieraus ergibt sich eine geringe Flexibilität des Taylor-Modells.
Neben dieser Eingrenzung der Möglichkeiten des Taylor-Modells ist das Modell auch nicht imstande, das geometrische Verhältnis des Zerspanungswerkzeugs zum Werkstück vollständig zu berücksichtigen. Auch Weiterentwicklungen des Taylor-Modells erfassten dies nicht. Eine Schneide kann entweder in orthogonaler Richtung oder schräg in das Werkstück eindringen. Des Weiteren wird eine Schneide als ›frei‹ bezeichnet, wenn die Schneidenecke oder der Eckenradius nicht am Zerspanungsprozess beteiligt ist, andernfalls als ›nicht frei‹.
Solch eine freie orthogonale oder schräge Zerspanung gibt es kaum in der modernen Metallzerspanung; aus diesem Grund ist ihre Bedeutung hier unerheblich. Taylors erweiterte Gleichung fügt eine Variable für den Spanwinkel der Schneide hinzu; es wurde jedoch keine Anpassung zur Berücksichtigung der Schneidenecke beziehungsweise des Eckenradius vorgenommen.
Rückblickend betrachtet hat aus heutiger Sicht das Taylor-Modell Defizite. Über seine lange Geschichte hinweg war es jedoch eine ausgezeichnete Grundlage für die Standzeitberechnung und liefert unter bestimmten Bedingungen immer noch gültige Standzeitdaten.
Trotz Defiziten war Taylor stets eine gute Basis für Standzeitprognosen
Bei der Entwicklung und beim Studium von Standzeitmodellen durch Ingenieure wurde klar, dass die erzeugte Spanungsdicke eng mit der Standzeit verknüpft ist. Die Spanungsdicke ist eine Funktion aus der Schnitttiefe und dem Vorschub. Sie wird senkrecht zur Schneidkante gemessen, in der Ebene senkrecht zur Schneidrichtung. Wenn der Einstellwinkel 90° beträgt, sind die Schnitttiefe und die Spanungsbreite identisch; gleiches gilt für den Vorschub und die Spanungsdicke.
Wenn die Schneidenecke des Werkzeugs ebenfalls an der Zerspanung beteiligt ist, wird eine weitere Variable für die Bestimmung der Spanungsdicke erforderlich. Der schwedische Ingenieur Ragnar Woxén entwickelte Anfang der 1930er-Jahre einen Weg, um den Eckenradius bei der Berechnung mit zu berücksichtigen. Er stellte eine Formel für die äquivalente Spandicke beim Drehen zur Verfügung, bei der die theoretische Spanungsdicke entlang des Eckenradius berechnet wird. Das Ergebnis berücksichtigt im Wesentlichen den Eckenradius und ermöglicht es, den Spanungsquerschnitt durch ein Rechteck darzustellen. Dank dieser Beschreibung kann das Modell den Schneideneingriff im Eckenradiusbereich berücksichtigen (Bild 2).
Ein Standzeitmodell, das Ende der 1950er-Jahre von dem schwedischen Professor Bertil Colding entwickelt wurde, beschreibt die Beziehung zwischen Standzeit, Schnittgeschwindigkeit und der äquivalenten Spandicke und bezieht gleichzeitig weitere Faktoren des Prozesses mit ein. Diese Faktoren enthalten Werkstoff und Geometrie sowie Temperatur und Bearbeitbarkeit des Werkstoffes. Dieses Modell und die daraus resultierende umfangreiche Gleichung erlauben eine präzise Auswertung der Auswirkungen von kombinierten Faktorveränderungen bei unterschiedlichen Zerspanungsbedingungen.
Das Colding-Modell wertet präzise kombinierte Faktorveränderungen aus
Colding erkannte, dass die Modifizierung der äquivalenten Spandicke (Vorschubänderung) die Beziehung zwischen Schnittgeschwindigkeit und Standzeit ändert. Wenn sich die äquivalente Spandicke erhöht, muss die Schnittgeschwindigkeit reduziert werden, um die Standzeit konstant zu halten. Je mehr die Spandicke erhöht wird, umso größer ist der Einfluss auf die Schnittgeschwindigkeitsänderung. Wenn andererseits die äquivalente Spandicke reduziert wird, erhöht sich die Standzeit und die Wirkung höherer Schnittgeschwindigkeiten reduziert sich ebenfalls. Viele unterschiedliche Kombinationen aus Vorschub, Schnitttiefe, Einstellwinkel und Eckenradius können denselben Wert der äquivalenten Spandicken ergeben. Und wenn eine konstante, äquivalente Spandicke bei konstanter Schnittgeschwindigkeit beibehalten wird, so bleibt auch die Standzeit konstant, auch wenn es Abweichungen in der Schnitttiefe, dem Vorschub und dem Einstellwinkel gibt.
Die mittels Kurven angezeigten Prognosen (Bild 3) sind bei der Bearbeitung von ›normalen‹ Werkstoffen wie Stahl mit stetig anwachsendem abrasiven Verschleiß eher unwichtig. Allerdings sind die Modellvorhersagen außerhalb des Bereichs des Taylor-Modells entscheidend, wenn es um die Bearbeitung von Werkstoffen wie Super- und Titanlegierungen geht, die eine Tendenz zur Kaltverfestigung zeigen. Denn bei geringer äquivalenter Spandicke tritt die Schneide in den kaltverfestigten Werkstoff ein, wobei sich die Zerspanungstemperatur erhöht und niedrigere Schnittgeschwindigkeiten erforderlich sind, um die Temperatur zu senken und so die Standzeit zu erhalten.
Entsprechende Kurven zeigen aber auch, dass – jedenfalls in einem Teil des Prozessfensters – eine Kombination aus größerer Spandicke und höheren Schnittgeschwindigkeiten, das heißt produktivere Schnittdaten, eine höhere Standzeit erzeugt. Als das Konzept der Erhöhung zweier Zerspanungsparameter in den 1960er- und 1970er-Jahren veröffentlicht wurde, war dies eine bahnbrechende Idee und ein Widerspruch zu allen damaligen Erfahrungen und Anschauungen.
Die Entwicklung von Modellen, die unterschiedliche Faktoren des Metallzerspanungsprozesses enthalten, beispielsweise das Colding-Modell in Kombination mit Konzepten des Taylor-Modells, haben dazu beigetragen, dass sich wie schon eingangs erwähnt Theorie und Praxis derart stark angenähert haben.
Die praktische Anwendung der immer anspruchsvoller werdenden Standzeitmodelle erfordert computergestützte Analysen der multiplen Faktoren, mit denen sie arbeiten. Einfache Modelle, die für ein bestimmtes Werkzeug, einen Werkstoff und feste Bearbeitungsbedingungen bestimmt sind, lassen sich innerhalb kurzer Zeit manuell berechnen. Das Taylor-Modell etwa ist in seiner Grundform in der Lage, schnelle Ergebnisse durch manuelle Berechnungen zu liefern.
Aber auch das Taylor-Modell kann in seiner erweiterten Form sehr zeitaufwändige Berechnungen erfordern, und manuelle Berechnungen der Faktoren in einer Colding-Gleichung sind für eine Fertigungsumgebung nicht geeignet. Um den vollen Nutzen aus den Vorhersagemöglichkeiten dieser erweiterten Modelle zu schöpfen, sollten Nutzer computergestützte Berechnungsprogramme verwenden (siehe Infokasten unten). Diese Programme können komplizierte Gleichungen innerhalb von Sekunden lösen und liefern nützliche Hilfestellungen bei Bearbeitungsfragen. PC-unterstützte Berechnungen entbinden den Bediener nicht von seiner Verantwortung, kritisch zu sein und die Ergebnisse mit gesundem Menschenverstand und praktischem Erfahrungswissen zu überprüfen. Dies erscheint umso wichtiger, je anspruchsvoller der zu bearbeitende Werkstoff ist.
Das Fazit: Die Erstellung von Standzeitmodellen ist kein rein akademisches Streben; es ermöglicht vielmehr den Betrieben, ihre Produktivität zu erhöhen und ihre Kosten zu steuern. Die grundsätzliche Überlegung lautet: Welche Zeit wird benötigt und welche Kosten entstehen, um eine Anzahl annehmbarer Werkstücke herzustellen? Es ist wichtig zu wissen, wie lange ein Werkzeug präzise und produktiv zerspanen kann, bevor es ersetzt werden muss. Prozesssicherheit sowie die Kontrolle von Werkzeugkosten und Stillstandzeiten hängen von einer genauen Vorhersage der Standzeit ab.